„Wurde da wirklich überall Bier gebraut?“

Interview mit Dr. Martin Zarnkow

FAZ.NET, 05.03.2021

Archäologische Funde

Wurde da wirklich überall Bier gebraut?

Zuletzt häuften sich die Meldungen über älteste Brauereien und früheste Biere. Wie bewertet ein Brauwissenschaftler die Theorien der Archäologen? Interview mit dem Forschungsleiter in Weihenstephan.

Von Uwe Ebbinghaus

Uwe Ebbinghaus: Über frühe archäologische "Bierfunde" wird immer gerne berichtet. Was aber kann man aus Ihrer Sicht streng genommen genau aus den Spuren lesen?

Martin Zarnkow: Was man analytisch gut herausfinden kann bei solchen vermeintlichen Bierfunden, sind die verwendeten Rohmaterialien. Dabei ist erstaunlich, wie lange sich manche erhalten haben: Getreide und andere Stärkelieferanten, Fruchtrückstände, Gewürze und so weiter. Desweiteren habe ich die Möglichkeit, über gewisse Indikatoren Prozesse abzulesen. Diese geben mir Hinweise, nicht aber saubere Beweise. Es würde mich daher freuen, wenn in diesen häufiger werdenden Publikationen über die nächste älteste Braustelle oder das nochmal ältere Bier - was mit der immer besser werdenden Analytik zusammenhängen mag -, mehr Vorsicht bei den Rückschlüssen angewandt würde. Aus den nachgewiesenen Rohstoffen folgt nicht immer, dass eindeutig ein fermentiertes, alkoholisches Getränk entstanden ist.

Uwe Ebbinghaus: Was weiß man eigentlich genau über das früheste Bierbrauen? Lassen wir die Diskussion einmal beiseite, was früher da war - das Bier oder die Sesshaftwerdung, Genuss oder Landwirtschaft. Was ist aus Ihrer Sicht dran am Bierbrauen in der Höhle von Rakefet, Israel, deren Nutzung auf die Zeit vor 10.000 vor Christus datiert wird?

Martin Zarnkow: Wenn wir nicht nur vom Bier, sondern allgemeiner von Alkohol sprechen, kann man sich leicht vorstellen, dass wir Menschen lange vor der Sesshaftwerdung mit verrotteten Früchten in Berührung gekommen sind. Früchte begegneten einem im Jahr aber nicht so häufig. Das ist ein Nachteil von vergorenen Früchten gegenüber dem Bier: Letzteres konnte man das ganze Jahr über produzieren, denn die Vorprodukte, die ich ebenfalls nur einmal im Jahr ernten konnte, konnte ich lagern. Daher wird Bier auch bis heute in weitaus größeren Volumina erzeugt als Wein. Das allererste Bier kann ich mir ganz simpel als Zufall vorstellen: Getreide, egal welches, wird von einem Menschen in die Hand genommen und in ein Gefäß mit Wasser geworfen. Fertig, das ist alles. So simpel ist Bierbrauen. Ich habe ausreichend Enzyme darin, damit sich die Stärke löst und in Zucker verwandeln kann. Wenn die entsprechenden Hefen, es müssen schon die richtigen sein, auf dem Getreidekorn säßen oder gerade durch die Luft flögen, wäre das ein großer Zufall. Aber am menschlichen Körper befinden sie sich, wir Menschen haben Mikroorganismen an uns, die aus Zucker Alkohol herstellen können. Ich brauchte also für dieses allererste Bier weder zwangsläufig die Erfindung des Mälzens noch die des Schrotens. Beide Verfahren haben große Vorteile, aber es geht auch ohne. Das kann jeder zuhause nachmachen. Es funktioniert. Ich habe das schon oft ausprobiert.

Jetzt zur Höhle von Rakefet und der Natufien-Kultur. Man hat dort Gefäße gefunden, wunderbar. Man hat zweifelsfrei einen Hinweis auf Rohmaterialien gefunden; durch Analyse der Silikatreste kann ich die Pflanze bestimmen. Die Frage ist dann weiter, ob die gefundenen Stärkekörner schon eine Attacke von Enzymen erfahren haben - ist also die Stärke in den Körnern schon zu fermentierbaren Zuckern verarbeitet worden - durch vorangegangene Mälzung, Spucke, bestimmte Schimmelpilze oder ähnliches? Den Prozess, in dem diese Enzyme ihre Arbeit verrichten, nennen wir heute "Maischen" - und auch der lässt sich nachweisen in der Höhle von Rakefet. Jetzt kommt aber die entscheidende Frage: Woher weiß man, dass dieses Produkt in Rakefet auch vergoren wurde? Denn wenn Zucker vergoren wurde, ist er nicht mehr da. Dann hat er sich in Ethanol, CO2 und Wärme verwandelt. Alles drei kann ich aber nicht mehr nachweisen. Die Wissenschaftler in Rakefet wollen unter dem Mikroskop anhand der wenigen Reste erkannt haben, dass eine längerfristige Verbindung mit Hefen stattgefunden hat. Und daran habe ich große Zweifel. Womit ich nicht sagen will, dass dort nicht Bier produziert worden sein kann. Es gibt sehr viele gute Gründe für dieses Getränk.

Uwe Ebbinghaus: Welche sind das?

Martin Zarnkow: Ich mache beim Bierbrauen ein Wasser attraktiv. Ich mache es sicher, ich mache Getreide trinkbar. Ich habe auch einen kleinen Rauschfaktor - wobei diese frühen Produkte in offenen Gebinde sicher nicht besonders stark waren. Doch die Alternative zum frühen Bier ist Wasser - da gibt es Schmackhafteres.

Uwe Ebbinghaus: Es wäre nicht unplausibel, dass in der Höhle von Rakefet Bier gebraut wurde. Was aber hätte man mit dem Getreide wohl produziert, wenn man es nicht in Bier verwandelt hätte?

Martin Zarnkow: Das ist ganz einfach: Brei, Mus, vielleicht auch Teigrohlinge. All das wird mir in den Theoriekonstrukten rund ums frühe Bier zu oft vergessen. Ich finde es als Bierbrauer ja nett, dass man immer gleich ans Bier denkt, aber ich rate zur Vorsicht: Es kann sich in den Gebinden auch um eine Grütze gehandelt haben. Gibt man Früchte hinzu, hat man ein Müsli. Das ist auch ein gutes Produkt.

Uwe Ebbinghaus: Wie lange würde es denn unter den Bedingungen einer Höhle in Israel dauern, ein Bier, das einigermaßen spannend schmeckt, aus Getreide- oder Stärkekörnern zu erzeugen?

Martin Zarnkow: Gibt man in eine Vertiefung Wasser hinein, fügt Getreidekörner hinzu, die dann aufquellen und die man vielleicht ein wenig zerstampft, beginnt die Gärung schon nach wenigen Stunden.

Uwe Ebbinghaus: Und wie schmecken kaltgemaischte Biere?

Martin Zarnkow: Sie sind frisch, durch die Milchsäure, sie können ein bisschen an Joghurt erinnern, sie sind angenehm süßlich, haben auch etwas Weiniges, ähneln geschmacklich etwas dem Federweißer, ein wenig auch dem Kwas. Ich habe mir mal erlaubt, solche einem einfachen Rezept etwas Granatapfelsaft hinzuzufügen. Das schmeckte echt klasse. Für diese Verwendung gibt es allerdings keinen Nachweis. Nach einiger Zeit werden solche Biere allerdings sauer.

Uwe Ebbinghaus: Sauer - durch Bakterien?

Martin Zarnkow: Ja, nach einer Weile setzen sich die Essigsäurebakterien durch. Das muss man immer bedenken: Bis ins Jahr 1883 beruhte jedes Bier ausnahmslos auf einer Mischgärung. Es gab nicht nur die eine Hefe, und es waren zum Beispiel auch Milchsäurebakterien im Spiel. Wenn man sich bei belgischen Lambic-Bieren anschaut, welche Populationen da bei der Gärung kommen und gehen, hat man eine leichte Vorstellung davon, wie es bei Bieren in früheren Zeiten aussah.

Uwe Ebbinghaus: Wenn ich Getreidekörner in Wasser zerstampfe - verwandelt sich das Produkt nur schneller zu Bier oder wird es auch stärker?

Martin Zarnkow: Beides ist der Fall.

Uwe Ebbinghaus: Auf welche Alkohol-Prozentzahlen komme ich dabei, nach 24 Stunden?

Martin Zarnkow: Was ich beim Nachbrauen mit optimierten Rohmaterialien nach 24 Stunden gemessen habe, waren 0,5 bis ein Volumenprozent an Alkohol. Ich kann mit der Kaltmaischung aber auch auf acht Volumenprozent Alkohol kommen. Das zeigt sich, wenn man Rezepte aus frühen mesopotamischen Texten nachbraut.

Uwe Ebbinghaus: Erstaunlich.

Martin Zarnkow: Ja, das ist etwas Tolles. Die richtigen Hefen sind am Anfang sehr aggressiv und schützen damit auch das Produkt vor gesundheitsschädlichen Organismen. Erst wenn die Zucker verwandelt sind, können auch andere, schädliche Bakterien wachsen, die aber zum Glück nicht pathogen sind.

Uwe Ebbinghaus: Deswegen war das Produkt sicherer als Wasser, obwohl es wahrscheinlich nicht gekocht wurde?

Martin Zarnkow: Genau, gekocht hat man Maische erst viel später.

Uwe Ebbinghaus: Auf diesen Punkt kommen wir gleich noch einmal zurück. Machen wir einen Sprung ins zehnte Jahrtausend vor Christus, zur ältesten bekannten Kultstätte, der in Göbekli Tepe in Südostanatolien. Was an Bierspuren ist hier nachweisbar? Sie waren an den Untersuchungen selbst beteiligt.

Martin Zarnkow: Es gab Hinweise auf Oxalat in den Kalksteintrögen, nicht allzu viele, aber immerhin. Wobei die Oxalsäure ein ganz natürlicher Bestandteil ist, der in Pflanzen vorkommt, ganz besonders in Getreidekörnern. Wenn diese Säure nun in irgendeiner Form in Wasser gelangt, findet eine Lösung statt, wenn sie dann auch noch auf ein Calcium-Ion trifft, das in Wässern vorkommt, können schon nach kurzer Zeit Calciumoxalat-Kristalle entstehen. Der Befund in Göbekli Tepe war aber nicht so, dass wir sagen konnten: Wir haben definitiv den Beweis dafür, dass dort Bier hergestellt wurde.

Uwe Ebbinghaus: Ist es in Göbekli Tepe plausibler, von Bier zu sprechen, als in der Höhle von Rakefet?

Martin Zarnkow: Schwierig.

Uwe Ebbinghaus: Immerhin, das habe ich bei Ihnen gelesen, wurde in der Nähe sehr früh Getreide kultiviert.

Martin Zarnkow: Am Karacadag, ja, das ist von mehreren Forschern belegt. Dort ist Einkorn, ein Vorläufer von Emmer, der wiederum ein Vorläufer von Weizen ist, domestiziert worden.

Uwe Ebbinghaus: Ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Menschen sich an solch einem Kultort zum Müsliessen eingefunden haben, es gibt ja auch Spuren eines Festmahls, dazu würde Bier gut passen.

Martin Zarnkow: Ja, das mit dem Müsli klingt in diesem Zusammenhang schon albern: Kommst Du auf ein Müsli rüber? Für mich ist auch das aber kein klarer analytischer Beweis. Die Sache ist ja so mit dem Oxalat: Bei jeder Bierherstellung fällt, ausnahmslos, als natürliches Sediment Calciumoxalat aus. Ich kann aber nicht im Umkehrschluss sagen: Ich habe einen Rückstand von Calciumoxalat gefunden, also wurde hier Bier gebraut. Es kann sich auch um eine andere Pflanze gehandelt haben, die hier zum Beispiel verrottet ist, oder eben um Getreidebrei, vielleicht auch Brot.

Uwe Ebbinghaus: Machen wir einen Sprung zu den nächsten Bierfunden. Wo gab es aus Ihrer Sicht im vierten Jahrtausend vor Christus früher Bier als übliches Nahrungsmittel - in Mesopotamien oder Ägypten?

Martin Zarnkow: Ich denke, es war eher Mesopotamien. Es gibt Hinweise darauf, dass es Biere auch schon vor den städtischen Kulturen gab. In Ägypten kenne ich keine Hinweise, die sich auf die Zeit vor den Hochkulturen beziehen, und die Hochkultur in Mesopotamien ist ein wenig älter. In Mesopotamien dominierte die Gerste, in Ägypten durchaus auch Emmer und Weizen. Es musste nicht immer die Gerste sein in der frühen Zeit.

Uwe Ebbinghaus: Wie ging die Bierproduktion in Mesopotamien vonstatten?

Martin Zarnkow: Im sogenannten fruchtbaren Halbmond bildete sich eine Kombination aus Bierbrauen und Brotbacken aus. Das brachte das Bier zu einer ersten Blüte. Fürs Bierbrauen hat man wahrscheinlich Sauerteigbrote verwendet, die brachten Hefen und Milchsäurebakterien in das Produkt. Eine interessante, sehr schlaue Methode. Dabei wurde stark die Sonnenenergie eingesetzt.

Uwe Ebbinghaus: Kommen wir zum jüngsten Brauereifund - im ägyptischen Abydos. Dort könnte Bier zu rituellen Zwecken gebraut worden sein.

Martin Zarnkow: Die Archäologie liefert viele Hinweise dafür, dass in Abydos Bier gebraut wurde, so gab es zum Beispiel vergleichbare Anlagen in Hierankopolis und entsprechende organische Rückstände. Bei den Funden in Abydos ist etwas sehr Spannendes zu bemerken. Man sieht dort bei den einzelnen Einheiten ein Gefäß im Gefäß. Darauf gehen die Archäologen nicht tiefer ein. Weil sie keine Idee dazu haben? Es könnte aber ein Schwimmkörper gewesen sein, der beim Brauen die Hefe über den Schaum aufnahm. Dieser wurde abgeschöpft und für den nächsten Sud verwendet. Damit hätte ich für Reproduktion gesorgt. Ein Würzekochen kann ich mir bei den Voraussetzungen in Abydos aber sehr schlecht vorstellen. Ich sehe auf den veröffentlichen Bildern an den Stützsäulen, die die konischen Gefäße halten, keine Brandspuren. Normalerweise müssten solche Kochgefäße schwarz sein. Man hat dort offenbar Asche gefunden, Asche kann aber auch ein Isolator sein. Schwierig. So lange mir niemand einen richtigen Beweis vorlegen kann, kann ich einen Kochvorgang aus den bisherigen archäologischen Funden heraus mit meinem Wissen nicht erkennen. Ich will es nicht ausschließen, aber ich weiß: Ohne das Kochen funktioniert es auch. Und: Für mehr als 20.000 Liter Volumen in regelmäßigen Abständen bräuchte ich enorme Mengen an Holz. Woher kam das? Wenn ich mir vorstelle, da brannte unter all den Gefäßen nebeneinander ein Feuerchen - wie uneffektiv. Auch ist die Frage offen, wie es weiterging, nachdem das Produkt in den Gefäßen fertig war. Da fehlt noch etwas. Wurde das Bier in Amphoren abgefüllt? Die Logistik muss bei 20.000 Litern jedenfalls verdammt gut gewesen sein.

Uwe Ebbinghaus: In Mesopotamien gab es aus Ihrer Sicht auch keine Hinweise darauf, dass Bier gekocht wurde?

Martin Zarnkow: Sicher nicht in diesen großen Volumina. Dass kleinere Mengen gekocht wurden, kann man sich immer vorstellen. Das Erhitzen würde aber übrigens auch mit den damals gebräuchlichen Kaltmaischverfahren kollidieren. Es würde die dabei verwendeten Hefen und Milchsäurebakterien abtöten.

Uwe Ebbinghaus: Ab wann wurde Bier sicher gekocht?

Martin Zarnkow: Erst als das Bierbrauen im ausgehenden Mittelalter professionalisiert wurde. Die Häuser wurden zunehmend aus Stein gebaut, sodass ich gefahrloser Feuer einsetzen konnte. Von nun an wurde die Würze gekocht. Die Bevölkerung war angestiegen, man musste mehr produzieren und musste daher zum Teil auch auf schlechteres Wasser zurückgreifen. Der Abtötungsmechanismus des Würzekochens wurde sinnvoll. Auch wurde jetzt Hopfen eingesetzt, der das Produkt ebenfalls sicherer machte. Der Hopfen wurde mitgekocht, das Bier wurde bitterer und mehr und mehr zu dem, was wir heute unter Bier verstehen.

Uwe Ebbinghaus: Ein Nebengedanke: Wenn der Druck zum Energiesparen im 21. Jahrhundert weiter steigt, wird es nicht früher oder später auch das Bier treffen? Ich brauche ja nach heutiger Machart recht viel Energie, um es zu produzieren. Gibt es schon Überlegungen, wie man ein energiesparsameres Bier herstellen könnte?

Martin Zarnkow: Seit der Energiekrise in den siebziger Jahren gibt es diese Überlegungen. Seitdem ist der Energieverbrauch in der Bierproduktion stark minimiert worden.

Uwe Ebbinghaus: Glauben Sie, es könnte irgendwann wieder einen Trend zum Kaltbrauen geben?

Martin Zarnkow: Trend würde ich nicht sagen, aber in der Tat ist es eine meiner Forschungsfragen, wie man auf das Würzekochen verzichten könnte. Ich habe ein kaltes Ausgangsprodukt, das ich erhitze, um es wieder abzukühlen. Kann man sich das Erhitzen nicht sparen? Gibt es andere Wege?

 

 

Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus.

Dr. Martin Zarnkow ist Leiter der Forschung und Entwicklung im Forschungszentrum Weihenstephan für Brau- und Lebensmittelqualität an der Technischen Universität München.

Quelle: FAZ.NET